Eröffnungsrede „Serge de Waha –Fotoarbeiten“, 11. Dezember 2004

Sehr geehrte Damen und Herren,

Serge de Waha hat mich gebeten, anläßlich der Eröffnung seiner Ausstellung im Atelier Wacker Rohm von seinen hier präsentierten Fotoarbeiten zu sprechen und kurz darzulegen, auf welche Gedanken diese mich bringen.

Serge de Waha legt seine Fotoarbeiten fast durchgängig mehrteilig an. Es handelt sich überwiegend um Bilderblöcke, bisweilen aber auch um Bilderreihen. Sowohl die Blöcke als auch die Reihen bestehen aus zumeist gleich großen, quadratischen Bildtafeln. De Waha gewinnt nun seine Fotoblöcke, wie hier zu sehen, nicht aus der Zerlegung einer großen Fotografie in Stücke, nicht aus der Zerstückelung einer vorgefundenen Bildeinheit in Bildteile, sondern durch die Zusammensetzung verschiedener Einzelbilder hin zu einem Ganzen erfundener Art, hin zu einer eigenständigen Bildkonstruktion, die weit hinter sich läßt, was in Wirklichkeit vorlag.

Was in Wirklichkeit vorlag oder was sich der Fotograf auf dem Boden seines Ateliers vorlegt und fotografiert, können Tücher, Hölzer oder Tüten, Papierbogen, T-Shirts oder Socken sein, zu denen sich häufig die Füße des Künstlers selbst gesellen, seine Füße, entweder im Stehen von oben oder im Liegen auf dem Rücken horizontal gesehen fotografiert – Füße, Stellvertreter in vielfacher Hinsicht.

Es sind relativ karge, stillebenartige Form- und Stoffzusammenstellungen, die de Waha fotografiert. Aus verschiedenen Teilaufnahmen setzt er dann, Vorzeichnungen folgend, ein erfundenes Gesamtbild zusammen. Es kann – wie der Fall bei der sechsteiligen „Allegorie der Zeichnung“ dort – eine scheinbar unmögliche Wirklichkeit bestätigen, tauchen hier doch gleich viermal die Füße des Künstlers auf. Vor diesen Füßen liegt jeweils eine Rolle Papier. Die vier Papierrollen bilden dabei eine Art Rahmen, der sich um das leere breite Bildzentrum herum zusammenschließt, das kaum etwas zeigt, abgesehen von zwei scheinbaren Bodenvertiefungen.

Nicht nur diese Fotoarbeit de Wahas will – wie im Titel vermerkt – als Allegorie gelesen und verstanden sein, d.h. als die bildhafte Darstellung eines Begriffs oder die Versinnbildlichung eines Unanschaulichen. In jener „ Allegorie der Zeichnung“ ist es, meine ich, die Zeichenkunst, um die es geht, die Kunst der Linie, die mit der Schraffur bzw. dem Hell-Dunkel durchaus malerisch werden und zu Tonabstufungen übergehen kann, wie sie hier fotografisch im Bildzentrum festgehalten erscheinen. Auch die weißen Papierrollen lassen sich als malerisch aufgeweichte Liniensetzungen sehen. In jedem Fall reflektiert sich der Künstler in dieser allegorischen Bildkonstruktion mit den Mitteln der Fotografie als Zeichner – und außerdem als Maler, der er geblieben ist, auch wenn er keine Tafelmalerei mehr betreibt. Mit dem Anblick seiner Füße wiederum reflektiert der Künstler seine eigene leibliche Existenz. Zurückgeworfen auf sich, an sich hinabschauend, erblickt er das, von was alle Menschen getragen werden, nämlich Füße und Boden. Nicht zuletzt das Fußmotiv regte mich dazu an, de Wahas bildsprachlichen Konstruktionen einen existentialistischen Zug zu unterstellen. Ich erkenne diesen Zug in seinem Hang zu Schwarz und Weiß sowie in seinem Faible für banale Alltagsgegenstände wieder.

Eine dritte Reflexionsebene in de Wahas Allegorien – die erste war Künstler, die zweite Leibexistenz – bilden Anspielungen auf die Kunstgeschichte. Aber bei aller Reflexivität oder bei allem Gedanklichen, das in seinen Arbeiten steckt, wird der Witz ganz und gar nicht ausgeschlossen. Nur kann das Komische hier rasch in eine tragische Komik umschlagen. Zwei Beispiele dafür will ich nennen.

Erstens: Die achtteilige Arbeit „Lager“, in jenem Raum dort zu sehen, zeigt zwei Fußpaare, die jeweils unter einem kurzen Laken hervorschauen. Schlafen hier zwei Zwerge mit Riesenfüßen? Witzig ist ebenso die Vorstellung, zwei Herren hätten ihre müden Füße schon frühzeitig zum Schlafen geschickt, während sie, die zwei Restherren, suf jener tollen Party noch bis zum Morgengrauen blieben. Füße, die unter einem Laken hervorschauen, lassen aber auch an eine Leiche denken – und schon vergeht einem das Lachen wieder.

Zweites Beispiel: die sechsteilige Fotoarbeit „Allegorie der Musik“ dort drüben. Hier hat der Bildkünstler Socken auf einer Holzpalette aneinandergereiht, hat dann unterschiedliche Aufnahmen von unterschiedlichen Sockenkompositionen gemacht und fünf von diesen Sockenaufnahmen dann mit einem Fußbild kombiniert. Bereits Socken an sich, kurze Strümpfe, hier wie bizarre Noten auf Notenlinien eingeschrieben, haben etwas Komisches. So läßt sich das Wort Socke etymologisch zurückführen über lat. Socculus, kleiner Schlüpfschuh, wie ihn die Komödienspieler trugen. Aber was bedeutet nun diese komische Socken-Allegorie der Musik, wie ist sie zu lesen? Machen hier 13 schwarze Herrensocken einem Schläfer bzw. schlafenden Füßen Musik vor? Die Aufnahme der Füße läßt sich jedenfalls nicht nur als das Fußpaar eines Liegenden, sondern auch als das eines Hängenden lesen – die Füße eines Gehenkten, unter denen, wie eine Trauergemeinde, alle Socken des Toten angetreten sind, Abschied zu nehmen von den toten Füßen. Der Western-Freund könnte so an Filme erinnert werden wie „Hängt ihn höher!“ oder „Spiel’ mir das Lied vom Tod“. Aber halt, wo ist eigentlich die 14. Socke, sollten wirklich alle seine Socken unter dem Toten erschienen sein? Antwort: Sie fehlt – Sockenschuß, um diesen merkwürdigen umgangssprachlichen Ausdruck zu erwähnen.

Zugleich läßt sich das Bilderganze von „Allegorie der Musik“ auch in Verbindung bringen mit der amerikanischen Nationalfahne, den „stars and stripes“, zudem mit den „flag paintings“ von Jaspar Jones. Mir fällt da die Gedichtzeile „There is a fleck on the flag“ von Ernst Jandl ein. Will man die ganze „Allegorie der Musik“ wieder mehr ins Heitere gewendet lesen, kann man z.B. auch von der leibphänomenologischen Einsicht ausgehen, daß zwischen Füßen und Socken wegen des Schweißes ein insgeheim doch recht gespanntes Verhältnis herrscht. Nicht hier – diese Fotoarbeit zeigt Füße, die alle ihre Socken mögen, und Socken, die alle ihre beiden Füße mögen und deswegen nachts gerne zu ihnen kommen und ihnen Geschichten vormachen, z.B. die Geschichte, sie wären nicht tote Gegenstände, sondern selbstbewußte Geschöpfe eigener Art, mit intensiven malerischen bzw. reliefplastischen Ausdruckswerten und obendrein reflexiv begabt. Hinweisen möchte ich noch auf die Redewendung „von den Socken sein“, was heißt, äußerst erstaunt sein, vor Überraschung, wie man auch sagt, aus den Schuhen fallen. Zu den Schuhen hin bilden Socken von der Haut her eine atmosphärisch prekäre, hautartige Übergangszone.

Um plastische Werte geht es in der sechsteiligen Fotoarbeit „satin night“. Zu sehen sind sechs Holzstammstücke, die auf liegenden weißen T-Shirts stehend durch die Nacht gleiten. Von hier führt ein Weg zur neusten Fotoarbeit des Bildsprachkünstlers: Milky way, Milchstraße. In dieser vierteiligen Bilderreihe werden kosmische Dimensionen tragikomisch kurzgeschlossen bzw. allegorisch unendlich verwickelt mit dem Papierkorb. Ein Papierkorb – ein plastischer Hohlkörper, ein Grab, ein Misthaufen – kann jeden, der sich auf Papier ernsthaft mit etwas beschäftigt, z.B. mit einem Bildvorsatz oder einem Redentwurf, bisweilen nachdenklich stimmen. Wie befreiend, wie mitreißend und prächtig wirkt demgegenüber die achtteilige Fotoarbeit „the beginning“ – das Beginnen, der Anfang. Es wirbeln 33 leere DinA4-Papierbogen durch die Nacht, von links nach rechts, zu Füßen zweier Fußpaare, die einander spiegelbildlich zugeordnet an den seitlichen Bildrändern erscheinen. Papier – das ist hier im Rahmen einer Allegorie des Anfangs ernst zu nehmen als wortwörtlich die Grundlage des Zeichners, des Dichters und des Musikers wie auch eines jeden Büroangestellten. Leeres Papier ist voll von Ungeschriebenem, voll von Ungezeigtem. Papier ist aller Anfang – genauer gesagt, das Zusammentreffen von leerem Papier und voller Bewegung ist am Anfang. Bewegung natürlicher Art oder Wind verdeutlicht bei „the beginning“ die Wirbelung der Papiere, Bewegung geistiger Art, Selbstbewußtsein, Entschlußkraft, verdeutlicht hingegen der eine Fuß am rechten Bildrand, der sich auf eines der 33 leeren Papiere gesetzt hat und quasi persönlich behauptet: Das ist es.

Ja, das war es. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.